Nationalratswahl 2013: Ich bin die 100%
Zum österreichischen Wahlergebnis kein Erklärungsversuch. Denn Erklärungen führen ohnehin nie weit genug, oder zumindest nicht so weit wie die zu erklärenden, empirisch feststellbaren Tatsachen:Was aber mag dieses Wahlergebnis für mich persönlich repräsentieren? Entspricht es nicht in irgendeiner Weise auch mir selbst, Österreicher der ich bin? Nein, nein, das kann nicht sein, das geht mir bei allem Relativismus und NEO-Positivismus doch ca. 21,4% zu weit!
Allerdings: wenn nicht mich selbst, erkenne ich in diesem Ergebnis nicht doch das 100%-ige Äquivalent einer durchschnittlichen Stunde Surfen im Internet?
Zumindest für mich, als Akademiker und Autor Jahrgang 1980, kritisch-konformistischer, behelfsbürgerlich sozialisierter Österreicher (gelegentlich auch mit Migrationsgrund), gilt ja folgender Surf-Schlüssel im WWW:
50,9% befinde ich mich im Internet auf irgendwelchen grossen, mainstream-orientierten, relativ gemäßigten und also vermeintlich vernünftigen oder zumindest pragmatisch akzeptablen Seiten, wie Nachrichten-Portalen, Suchmaschinen, Email-Progammen, Enzyklopädien, Social Media, etc. Das ist die Hauptspeise, die grossen Institutionen, die versuchte Simulation des einst real-materiellen Lebens, der grosse inhaltliche Rest vom Fest, das da einmal “Gesellschaft” hieß (=SPÖ+ÖVP).
21,9% der Zeit, Bildschirmfläche, MBs oder sonstwie gültiger Internet-Masseinheiten bin ich mit irgendwelchen Extremismen, Hasstiraden, visuell-sprachlichen Gewaltakten, Rachephantasien oder schrillen Superlativen konfrontiert (=FPÖ).
11,5% meines Internets bestehen aus erfreulichen, avantgardistischen, alternativen, feministisch-solidarisch-ökologisch engagierten Protesten und moralischen Empörungen gegen diese wahrlich wenig erbaulichen 21,9%, wobei aber leider der Dialog mit den auch nicht ganz unerheblichen 50,9% meist ein wenig zu kurz zu kommen scheint (=Grüne).
(Oben, nicht im Bild: die fehlenden 88,5%)
3,6% des Internets sind so dunkel wie mein bürgerliches Unterbewusstsein, sind Seiten, bei denen mein Über-Ich zum Glück immer noch Scham genug empfindet, um einfach davonzulaufen (=BZÖ).
10,6% meines täglichen konsumierten Internet-Contents ist expliziter Marktplatz, ist käuflich, oder schon gekauft, oder sonstwie privatwirtschaftlich-kommerziell motiviert, beispielsweise Seiten wie oebb.at, westbahn.at, netbanking.at, willhaben.at sowie auch amazon.com und sämtliche sonstigen Dot-Coms (=Team Stronach+Neos).
2.0% des Internets (nach Zeit, nicht nach Menge) bestehen schliesslich noch aus wahrhaftigen und tief empfundenen Utopien, Hobbies, Haustierpflege-, Koch- und Basteltipps, Halbprivatwelten, Flohmärkten, Blogs und nicht zuletzt: Kunst. Verlockend und entspannend, aber doch irgendwie zu schrullig, um jemals staatstragend sein zu können (=KPÖ über Männer- bishin zur Piratenpartei).
Und entsprechend der Wahlbeteiligung von 65%, gibt es andererseits zum Glück ex negativo noch wenigstens 35% meines Lebens, die überhaupt nichts mit dem Internet zu tun haben, und folglich nicht Teil dieses Wahlergebnisses sind.
Was folgt aus all diesen – ebenso wie unsere geliebte Große Koalition – beschwerlich hinkenden Vergleichen?
Nun, ich meine – bieder soziologisch – dass von der Nachkriegsera bis zur Erfindung des Internets, also im goldenen Zeitalter der Großparteien, der Deckel auf dem gesellschaftlichen Kochtopf einfach noch viel fester saß. Der Staat hatte, dank seiner Großparteien, Autoritäten und linientreuen Medien aller Art, noch gewisse frontale Möglichkeiten, ein offiziell gültiges und legitimiertes Bild der Gesellschaft zu formen, damit diese mindestens so vernünftig aussah wie die Institutionen, die vorgaben, sie zu repräsentieren. Oder, um es noch komplizierter mit Kant zu sagen:
“Die Vernunft muss an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was ein Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu anworten, die er ihnen vorlegt.” (Kritik der Reinen Vernunft, Band II-IV, Seite so-und-so)
Heutzutage hat sich der Spieß um 180 Grad gewendet. Oder sogar um 720 Grad. Oder er rotiert überhaupt nur noch, ständig, verzweifelt, wie ein bestalltes Bio-Backhenderl über einem kalten LED-Fegefeuer. Im Jahre 2013 ist die Wirklichkeit eine post-empirische Gesellschaft, die sich selber jene Fragen vorlegt, auf die zu antworten sich wirklich niemand mehr genötigt fühlt.
Substanziell ist dies immer noch die gleiche Gesellschaft wie anno Kreisky oder früher, weil der sog. Mensch in wesentlichen Punkten – abgesehen von EU und iPhone – als wenig verbesserlich zu gelten hat (und das gilt erst recht für den aktuellen, post-humanen Menschen). Nur die Repräsentations- und Machtverhältnisse, die ändern sich ständig. Also ist diese Österreichische Gesellschaft – HEUTE – nunmehr eine, die eine weitgehend entmächtigte und zerklüftete Polit- und Medien-Landschaft genau nach ihrem Abbild formen darf. Im Internet hat sie sich selbst einen akkuraten Spiegel geschaffen; und im österreichischen Parlament, wie es scheint, einen weiteren. Blöd nur, dass gerade jetzt, wo endlich der Deckel vom Kochtopf ist, der Demokratie langsam der Dampf ausgeht.
Oder irgendwie so. Hauptsache, meine Gedanken, Analysen und Fragen zur NR-Wahl 2013 sind diffus, dürftig und gerade nicht wahr genug, um auch im Internet dauerhaft bestehen zu können. Vielen Dank fürs gemeinsame Zeit- und Sinnvertreiben, und für 100%-iges Mit-Dabeisein!